Mittwoch, April 30, 2025
Wer trägt die Verantwortung, wenn Großprojekte scheitern?

Im Sommer 1976 sorgte der Bruch des Elbe-Seitenkanals im Nordosten Niedersachsens für eine Flutkatastrophe. Aus heutiger Sicht erscheint die Katastrophe so grotesk wie unausweichlich. Ein Lehrstück über die Frage nach der politischen Verantwortung, die nicht nur in Deutschland auch heute noch brandaktuell ist.

Am 18. Juli 1976 heulten im Landkreis Lüneburg die Sirenen. Am Elbe-Seitenkanal war ein Damm gebrochen, das Wasser strömte durch die Vororte der Kreisstadt und nach wenigen Stunden waren mehr als 1000 Hektar Land überflutet. 3000 Rettungskräfte traten in Aktion und retteten Menschen aus überfluteten Häusern, während Panzer der Bundeswehr in den Kanal fuhren, um einen notdürftigen Damm zu bauen. Am Tag nach der Katastrophe gab es deshalb keine Todesopfer zu beklagen, aber dafür stand eine Frage im Raum: Wer war für die Katastrophe verantwortlich?

Es gab darauf eine formale Antwort. Der Kanal, der nur fünf Wochen zuvor eingeweiht worden war, gehörte der Bundesrepublik Deutschland. Das musste auch so sein, denn laut Grundgesetz war die Binnenschifffahrt eine Aufgabe des Bundes. Die Bundesrepublik war freilich nicht gerade ein stolzer Besitzer des Kanals. Sie hatte mehr als ein Jahrzehnt gegen den Bau des Elbe-Seitenkanals gekämpft, und das keineswegs halbherzig. 1957 hatte der Bundesverkehrsminister Hans-Christoph Seebohm vor der Presse erklärt, das Projekt sei »Blödsinn«.

Er stand mit dieser Einschätzung nicht allein. Die große Zeit des Kanalbaus war in Deutschland das Kaiserreich gewesen, als die Kohle das weitaus wichtigste Transportgut war. Die deutsche Steinkohle war jedoch längst in der Krise, als das Bundeskabinett 1965 den Bau des Elbe-Seitenkanals beschloss, und deshalb gehörten neben dem Bundesverkehrsministerium auch die Bundesländer Schleswig-Holstein und Niedersachsen, der Landkreis Lüneburg, die Bundesbahn und der Bundesfinanzminister zu den Gegnern. Selbst in Hamburg, das mit dem Kanal einen besseren Anschluss ans bundesdeutsche Wasserstraßennetz erlangen wollte, war das Projekt nicht unumstritten. Gebaut wurde trotzdem.

Endlose Verhandlungen

Man kann eine Menge über bundesdeutsche Politik lernen, wenn man sich auf die Suche nach den Ursachen macht. Es gab Verträge und Kabinettsbeschlüsse, aber eigentlich war das Projekt ein Ergebnis endloser Verhandlungen. Im politischen System der Bundesrepublik wurde ständig verhandelt, und das auf allen Ebenen. Bundesländer verhandelten mit ihren Nachbarländern und dem Bund, der Verkehrsminister verhandelte mit dem Finanzminister, Parteien verhandelten über Koalitionen, Ministerien verhandelten mit Gutachtern, und auf den unteren Ebenen setzte sich das Spiel munter fort.

So musste sich der Hamburger Wirtschaftssenator Karl Schiller, ein dezidierter Befürworter des Projekts, auch einmal mit dem Chef der staatseigenen Hamburger Hafen- und Lagerhaus-Aktiengesellschaft herumschlagen. Der hielt es nämlich für wichtiger, gute Beziehungen zur Bundesbahn zu pflegen.

Als 1965 die Entscheidung fiel, hatten Politik und Verwaltung nicht weniger als 15 Jahre verhandelt. Das führte jedoch nicht zu einer Klärung der Verantwortlichkeiten. In der Bundesrepublik verhandelte man in Permanenz, und deshalb gab es einen immensen Druck, sich irgendwie zu einigen: Wer seine Bedenken zurückstellte, konnte schließlich in der nächsten Verhandlungsrunde eine Gegenleistung erwarten. Gemeinsame Beschlüsse waren immer auch ein Weg, Komplizen zu schaffen, und das dokumentierte sich in einigen spektakulären Meinungsumschwüngen.

Als CDU/CSU und FDP nach der Bundestagswahl 1961 über eine Koalition verhandelten, kämpfte die Union erfolglos gegen eine FDP-Clique, die den Elbe-Seitenkanal in den Koalitionsvertrag bugsierte. Drei Jahre später drängte Bundesverkehrsminister Seebohm, inzwischen Chef der Niedersachsen-CDU, auf eine rasche Einigung, weil gerade Kommunalwahlen in seinem Bundesland anstanden.

Fehler der Vergangenheit

Der Elbe-Seitenkanal war ein Lehrstück über Verantwortung in der Bundesrepublik Deutschland. Das Projekt zeigt, wie Verantwortung in endlosen Verhandlungen diffundierte und am Ende alle ehemaligen Gegner mit im Boot saßen. Inhaltlich gab es in den Fünfziger- und Sechzigerjahren gute Gründe, gegen den Elbe-Seitenkanal zu sein. Politisch sah das anders aus. Im Krieg konnte man mit heldenhaftem Widerstand Orden verdienen, aber im politischen System der Bundesrepublik war man mit einer solchen Einstellung einfach nur ein Idiot. Man sah sich schließlich wieder.

Inzwischen liegen die Verhandlungen über den Elbe-Seitenkanal mehr als ein halbes Jahrhundert zurück und alle Verantwortlichen sind tot. Der letzte starb 2015: Es handelte sich um den Bundeskanzler Helmut Schmidt, der am Anfang seiner Karriere Chef des Hamburger Verkehrsamts gewesen war. Die Regeln der Politik haben sich jedoch erstaunlich wenig verändert. Nirgends ist die alte Bundesrepublik noch so lebendig wie in ihrem politischen System. Weiterhin gibt es deshalb das Risiko, dass am Ende langer Verhandlungen ein Projekt gebaut wird, das niemand will, und wenn die Sache schiefgeht, ist plötzlich niemand mehr verantwortlich.

Man kann auch immer noch Kanalprojekte einfädeln, die sich nie rentieren. So wird zum Beispiel gerade der Ausbau des Elbe-Lübeck-Kanals geplant – ironischerweise die Fortsetzung des Elbe-Seitenkanals in Richtung Ostsee. Die Geschichte wirkt seltsam vertraut, wenn man die Verhandlungen der Sechzigerjahre kennt, bis hin zu emsigen Bundestagsabgeordneten, die ein Herz für die Binnenschifffahrt haben. Heute kommt der entscheidende Mann allerdings von der CDU.

Angekündigte Katastrophe

Eigentlich ist Verantwortung ein ganz einfaches Prinzip. Schwierig wird es erst, wenn es keine Belohnung gibt, Verantwortung zu übernehmen – und dafür zahlreiche Wege, Verantwortung zu streuen. Das Gespenstische am Elbe-Seitenkanal war, wie folgerichtig das Fiasko war. Alle unabhängigen Beobachter erwarteten das finanzielle Desaster, das dann auch eintrat, aber es gab nichts, was die Kultur der organisierten Verantwortungslosigkeit erschüttern konnte. Man kam sogar durch, wenn ein Kanal fünf Wochen nach der Eröffnung Leck schlug. Die Flutkatastrophe vom Juli 1976 war dramatisch. Aber sie war kein Grund, die Frage nach der Verantwortung zu stellen.

Nachdem das Wasser abgelaufen war, klärte eine Kommission die technische Ursache, der Bund entschädigte die betroffenen Eigentümer, und das war es dann auch. Niemand musste seinen Hut nehmen oder auch nur ein paar kritische Fragen im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit beantworten.

Die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung konnte es sich sogar leisten, besorgte Bürger mit Haus am Kanal brüsk abzuwimmeln: Man wisse schon, was man da tue. Es gab auch kritische Berichte in der Presse, aber das konnte man einfach ignorieren. Irgendwann würden sich die Leute schon um andere Dinge kümmern. Außerdem war die Verwaltung gut beschäftigt. Sie musste die klaffende Lücke im Kanal schließen, und außerdem gab es entlang des Kanals zahlreiche Stellen, an denen die Abdichtung mit zusätzlichen Maßnahmen verbessert wurde. Schließlich gab es nach der Katastrophe noch mal ordentlich Geld.

Am 15. Juni 1976 war der Elbe-Seitenkanal mit einem großen Volksfest eröffnet worden. Die zweite Eröffnung am 27. Juni 1977 geschah in aller Stille um fünf Uhr früh. Irgendwie war die Sache halt doch peinlich.

Zum Autor

Frank Uekötter ist Dozent für Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Universität Birmingham. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Umwelt- und Agrargeschichte, Geschichte von Wissenschaft und Technik sowie die geisteswissenschaftliche Umweltforschung. Er schreibt regelmäßig über umweltpolitische Themen für Focus Online.

In seinem Buch »Der deutsche Kanal. Eine Mythologie der deutschen Bundesrepublik« zeigt Uekötter den Elbe-Seitenkanal als ein Beispiel für Bauvorhaben, die auf politischer Ebene scheitern. Er plädiert für ein gesellschaftliches Umdenken und für einen politischen Gestaltungswillen, der die Übernahme von Verantwortung als Tugend wiederentdeckt. Dabei weitet er das thematische Feld und bezieht die Auswirkungen modernen Stadtmarketings genauso in seine Betrachtungen mit ein wie die Herausforderungen der Globalisierung.

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