Freitag, April 25, 2025

Eigenverantwortliches, ergebnisorientiertes Arbeiten klingt verlockend. Von der Aufzeichnungspflicht und gesetzlichen Arbeitszeitregelungen entbindet das Modell der Vertrauensarbeitszeit aber nicht. Mitarbeiter und Führungskräfte sind gleichermaßen gefordert.

Bei IBM fragt man nicht, ob jemand »heute im Büro ist«. An einem durchschnittlichen Arbeitstag ist etwa die Hälfte der Belegschaft auch physisch im Büro anwesend. Der Rest arbeitet bei einem Kunden, von zu Hause, an einer anderen IBM-Betriebsstätte oder auch von unterwegs aus. Über das Instant Messaging Tool sieht jeder Mitarbeiter, wer gerade »grün« ist – denn das bedeutet online und verfügbar.

Für Besprechungen wird nicht nur der Name des jeweiligen Raums angegeben, sondern auch eine Telekonferenznummer, über die sich Mitarbeiter auch von auswärts ins Meeting einwählen können. Wenn man sich überhaupt noch im echten Leben trifft: Via Cloud oder Videokonferenz finden viele Meetings rund um den Erdball nur noch virtuell statt.

Motivierter und produktiver

Dieses »Neue Arbeiten«, unabhängig von Ort und Zeit, hat bei IBM, in Österreich 1994 als Pilotprojekt eingeführt, seit rund 20 Jahren Tradition. »Unsere Erfahrung zeigt: Es braucht mehr als nur eine gute Betriebsvereinbarung, es braucht auch den Mut aller Beteiligten zu einer veränderten Unternehmenskultur«, erklärt Gerhard Zakrajšek, HR-Leiter von IBM Österreich. »Führen über Ziele statt über Kontrolle müssen viele Führungskräfte erst lernen. Aber auch für Mitarbeiter ist es eine Umstellung, mit so viel Eigenverantwortung umzugehen.«

Gerhard Zakrajšek, IBM: »Führen über Ziele statt über Kontrolle müssen viele Führungskräfte erst lernen.«

Missen möchte diese Flexibilität inzwischen niemand mehr. Statt im Stau auf der Tangente zu stehen, wird lieber im Home Office gearbeitet und die ersparte Zeit mit der Familie verbracht. Auch das Unternehmen profitiere davon, meint Zakrajšek: »Wer sich größtenteils selbst einteilen kann, wann und von welchem Ort aus gearbeitet wird, ist motivierter und produktiver. Wir sind davon überzeugt, dass Leistung mehr zählt als Anwesenheit.« Anfang der 90er-Jahre waren flexible Arbeitsmodelle »etwas spektakulär Neues«, erinnert sich der HR-Manager. »Wie bei jedem Veränderungsprojekt gab es natürlich auch Skeptiker in der Belegschaft« – vor allem betreffend der technischen Voraussetzungen.

Durch digitale Vernetzung ist die Verfügbarkeit von Arbeitsmaterialien im Home Office heute kein Thema mehr. Dank intelligenter Kommunikationssysteme hat jeder »IBMer« sein vollwertiges Büro immer bei sich. »Natürlich gibt es auch heute noch formale und organisatorische Bedingungen, die man aus Unternehmenssicht sicherstellen muss. Das beginnt beim IT-Equipment und dem Zubehör und geht bis hin zu Security-Fragen«, sagt Zakrajšek. »Maximale Datensicherheit muss gewährleistet bleiben – egal von wo und über welches Endgerät unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten.«

Ohne Stechuhr

Flexible Arbeitszeiten und mobiles Arbeiten sind in Österreich auf dem Vormarsch, auch wenn der Großteil der Arbeitnehmer (84 %) noch vorwiegend im Büro arbeitet. Gleitzeit mit Kernzeit ist mit Abstand das gängigste Arbeitszeitmodell (63 %), an zweiter Stelle folgt Gleitzeit ohne Kernzeit (27 %). In nur knapp einem Viertel der Unternehmen (23 %) ist Vertrauensarbeitszeit etabliert, wie eine Umfrage von Deloitte Consulting unter rund 250 österreichischen Führungskräfte zeigt. Da eine gültige Definition fehlt, kursieren unter dem inzwischen sehr populären Begriff aber recht unterschiedliche Auslegungen.

»In der echten Reinform praktizieren in Österreich nur wenige Unternehmen Vertrauensarbeitszeit. Oft erfassen die Mitarbeiter vertrauensbasiert ihre Zeiten, müssen also nicht physisch bei der Stempeluhr anwesend sein. Dahinter steht aber ein ganz normales Gleitzeitmodell«, erläutert Deloitte-Personalexpertin Barbara Kellner. Sie hält flexible Gleitzeit für die meisten Unternehmen für vorteilhafter und einfacher: »Vertrauensarbeitszeit muss mit allen Mitarbeitern einzelvertraglich vereinbart werden. Bei sehr großen Unternehmen ist das ein erheblicher Mehraufwand. Wenn ich Gleitzeit einführe, kann ich das über den Betriebsrat machen.«

Wie die Praxis zeigt, wird aber selbst bei Gleitzeitregelungen die mögliche Flexibilität nur dann genutzt, wenn Unternehmenskultur und Führungskräfte dies aktiv unterstützen und vorleben. So geben 59 % der Befragten an, Spielräume in der Arbeitszeit wegen fehlender Vorbildwirkung der Vorgesetzten nicht auszuschöpfen. So gibt es selten klare Vereinbarungen oder Absprachen über gegenseitige Erwartungen. Heterogene Teams, gefühlte Unfairness und Spannungen sind die Folge. Eine von Vertrauen geprägte Kultur – die Voraussetzung für flexibles Arbeiten – würde nur etwa die Hälfte der in der Deloitte-Studie befragten Führungskräfte ihrem Unternehmen zuschreiben. Die andere Hälfte sieht noch immer Kontrolle und Anwesenheit als wesentliche Charakteristika ihrer Organisation.

Gesetzliche Grauzone

Mitarbeiter, die in Zeiten flauer Geschäftstätigkeit nicht mehr bloß Stunden absitzen, sondern eigenverantwortlich ihre Aufgaben erfüllen – davon träumt wohl so mancher Arbeitgeber. Was zählt, sind die Ergebnisse, nicht wann, wo und in welchem Zeitraum die Arbeit erledigt wird. Der Wechsel von einer Zeit- zur Leistungskultur gefällt auch der jüngeren Generation, die in der gewonnenen Freiheit die Chance sehen, neben dem Beruf auch noch andere Interessen unter einen Hut zu bringen.

Maria Sablatnig, Ecovis Austria: »Die starren Arbeitszeitregelungen entsprechen nicht mehr der Realität.«

Die Hoffnung, sich auf diesem Weg auch lästiger arbeitsrechtlicher Regelungen zu entledigen, erfüllt sich in Österreich jedenfalls nicht. Vertrauensarbeitszeit entbindet nicht von der Pflicht, die geleisteten Arbeitszeiten aufzuzeichnen. Ob diese Daten elektronisch erfasst werden oder die Mitarbeiter handschriftliche Listen in der Schreibtischlade aufbewahren, bleibt freigestellt. Unternehmen, die Arbeits- und Ruhezeiten aber nicht ausreichend dokumentieren, drohen beträchtliche Nachzahlungen bzw. Strafen.

Zudem ist Vertrauensarbeitszeit nicht gesetzlich geregelt. Sonderbestimmungen wie etwa Zeitausgleich statt Überstundenentlohnung, Durchrechnungszeiträume oder Gleitzeitvereinbarungen kommen deshalb nicht zum Tragen. Auch die gesetzlichen und kollektivvertraglichen Höchstarbeitsgrenzen sowie Bestimmungen über Ruhezeiten,

Ruhepausen oder Nachtarbeit gelten weiterhin. »Vertrauensarbeitszeit klingt verlockend, trotzdem muss es eine Kontrolle geben. Solange es keine gesetzliche Regelung gibt, die eine größere Breite zulässt, kommt der Arbeitgeber nicht umhin, einen gewissen Rahmen zu schaffen«, warnt Maria Sablatnig, Expertin für Arbeits-, Sozialversicherungs- und Lohnsteuerrecht bei Ecovis Austria.

Vertrauenskultur

Nicht bei allen Beteiligten stößt das ergebnisorientierte Arbeiten auf Gegenliebe. Angesichts der hohen Burnout-Raten warnen die Gewerkschaften vor versteckter Mehrarbeit und drohender Überlastung. Tatsächlich zeigt die Erfahrung, dass unterbesetzte Teams oft über Monate versuchen, das Arbeitspensum mit verlängerten Arbeitszeiten aufzufangen, ohne ein Warnsignal an ihre Vorgesetzten abzugeben. Umso wachsamer muss das Management agieren, definierte Regeln und Grenzen regelmäßig kommunizieren und enge Feedbackschleifen etablieren. Vertrauensarbeitszeit setzt deshalb eine gut funktionierende Vertrauenskultur voraus.

Friederikos Kariotis, Frequentis: »Es braucht ein hohes Maß an Verantwortungsgefühl und Kommunikation.«

»Der Schutz vor Überarbeitung ist uns sehr wichtig. Wir haben neben einigen Frühwarnfunktionen in unseren Systemen auch einen klar definierten und kommunizierten Eskalationsprozess«, bestätigt Friederikos Kariotis, Director Human Resources der Frequentis AG. Der österreichische Technologiekonzern startete Ende der 90er-Jahre mit einer Pilotgruppe, seit dem Jahr 2000 ist Vertrauensarbeitszeit nahezu im gesamten Unternehmen – ausgenommen der Produktion – implementiert. Auch wenn diese Form des Arbeitens für die meis­ten Mitarbeiter heute nicht mehr wegzudenken ist, muss der Dialog darüber stetig im Laufen gehalten werden.

»Neben gegenseitigem Vertrauen und Transparenz in der Führung braucht es auch bei allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein hohes Maß an Verantwortungsgefühl und Kommunikation«, sagt Kariotis. »Skepsis gibt es immer wieder. Mitarbeiter kommen neu zu uns, sind andere Systeme gewohnt oder haben negative Erfahrungen gesammelt.« Schon im Recruiting-Prozess wird über das Arbeitszeitmodell informiert, im Welcome-Programm gibt es Details dazu. Ein Mentor begleitet durch die Anfangszeit und reflektiert gemeinsam die alltäglichen Situationen. »Für Führungskräfte zeigt sich in der Praxis, dass Vertrauensarbeitszeit sehr anspruchsvoll ist. Klarheit über Ziele, stetiger Austausch und klare Regeln im Umgang miteinander sind ein wesentlicher Erfolgsfaktor«, meint der HR-Manager.

Nine-to-five hat ausgedient

Von der Anwesenheitskultur heißt es, Abschied zu nehmen. Die tradierten Denkmuster hat anfangs noch fast jeder fest im Kopf verankert: Mitarbeiter, die als Letzte das Büro verlassen, sind am fleißigsten, und jene, die nicht anwesend sind, haben offenbar zu wenig Arbeit. Der technologische Wandel macht diese Bilder obsolet. Über kurz oder lang werde auch die Gesetzgebung in diesem Bereich nachziehen, meint Arbeitsrechtsexpertin Sablatnig: »Das ist nur noch eine Frage der Zeit. Da wird sich etwas tun müssen, weil die starren Arbeitszeitregelungen nicht mehr der Realität entsprechen.«

Einen signifikanten Zusammenhang zwischen Wahlfreiheit bei der Arbeitseinteilung und Innovationsfähigkeit stellte das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) fest. Unternehmen mit Vertrauensarbeitszeit bringen elf bis 14 % mehr neue oder verbesserte Produkte auf den Markt als Betriebe mit herkömmlichen Arbeitszeitregelungen. »Neue Ideen entstehen offenbar, wenn organisatorische Hürden für Kreativität beseitigt werden«, erklärt IwF-Forscherin ­Aoife Hanley.

An dieser Analyse könnte durchaus etwas dran sein, sind doch unter jenen Betrieben, die Vertrauensarbeitszeit erfolgreich praktizieren, auffallend viele Unternehmen aus der IT-Branche, dem Kommunikationsbereich oder kreativen Berufen. Bei Microsoft wurde der »Grundsatz der Vertrauensarbeitszeit« gar zur Firmenphilosophie erhoben: »Mein Büro ist dort, wo ich bin.«

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